„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ (Koh 1,9). In der Tat strahlte am frühen Abend des 13. Juni die Sonne mit ganzer Kraft in die Aula der Kölner Hochschule für katholische Theologie, als Prof. Dr. Tobias Häner seine Antrittsvorlesung unter dem Titel „Wo warst du, als ich die Erde gründete?“ (Ijob 38,4). Alttestamentliche Exegese im Anthropozän“ mit diesem Zitat aus dem weisheitlichen Koheletbuch begann (und auch beendete). Seit zwei Jahren ist der Schweizer Theologe an der Hochschule tätig und hat seit April den Lehrstuhl für Einleitung und Exegese des Alten Testaments einschl. des Dialogs mit den Kulturen des Vorderen Orients inne. Der Verweis auf die sprichwörtlich gewordene Aussage am Beginn des Buches Kohelet diente Prof. Häner als Ausgangspunkt, um die Dialektik von Tradition und Innovation in den alttestamentlichen Texten selbst und in ihrer Auslegung zu erörtern. Kohelets Ausspruch steht auf dem Hintergrund des Vordringens des Hellenismus und reagiert folglich auf damalige kulturgeschichtliche Veränderungen. In ähnlicher Weise ist auch die alttestamentliche Exegese immer auch Kind ihrer Zeit. Unter Verweis auf aktuelle Zahlen zur intensiven globalen Landschaftsprägung und dem damit einhergehenden massiven und sich beschleunigenden Rückgang der Biodiversität postulierte Prof. Häner für ein Verständnis der gegenwärtigen erdgeschichtlichen Epoche des Anthropozäns als einer Verarmungs- und Verlusterfahrung, die unsere Annäherung an die alttestamentlichen Texte verändern kann.
Und diese veränderte Wahrnehmung betrifft nicht zuletzt die Vorstellung von der Lebendigkeit und in diesem Sinne einer Subjekthaftigkeit nichthumaner Elemente des Kosmos, die, wie Prof. Häner unter Rekurs auf eine Studie der Bibelwissenschaftlerin Mari Joerstad zeigte, in weiten Teilen Hebräischen Bibel präsent ist. Das weitgehende Verdunsten dieser Vorstellung in der westlichen Moderne wird von Philosophinnen und Philosophen wie Corine Pelluchon und Andreas Weber als eine gescheiterte Anthropozentrik beschrieben. Im Hauptteil seines Referats entwickelte Prof. Häner folglich ausgehend von Textabschnitten aus seinen bisherigen Forschungsschwerpunkten drei Perspektiven, die über die gescheiterte Anthropozentrik hinauszuweisen vermögen.
Die erste Gottesrede des Ijobbuches (Ijob 38–39) ist geprägt von einer scharfen, aber im Ganzen wohlwollenden Ironie, die Ijob die Begrenztheit seines Erkenntnisvermögens bezüglich der göttlichen Weltordnung vor Augen führt. Zugleich zeichnet sie aber auch, wie Prof. Häner hervorhob, ein nicht anthropozentrisches, sondern vielmehr kosmozentrisches Weltbild. Auch den Heilsverheißungen in Ez 36 ist eine gewisse Kosmozentrik unterlegt, die aber auf eine das Buchganze prägende Theozentrik hingeordnet ist. Das Hohelied schließlich, so Prof. Häner, vermittle eine ästhetische Erfahrung, die nicht zuletzt auf den im Tempel symbolisch wiedergespiegelten Garten Eden und mithin auf eine Haltung der liebevollen Staunens und der Bewunderung ausgerichtet sei.