Luigi Pareyson: Wahrheit und Interpretation. Übersetzt von Gianluca De Candia. Hamburg (Felix Meiner Verlag) 2023. 370 Seiten. 74,00 Euro.
Bei der Lektüre Luigi Pareysons „Wahrheit und Interpretation“ von Jan Kuhlbrodt
Die italienische Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, jenseits des Hegelianismus Benedetto Croces und der Semiotik Umberto Ecos, ist, soweit ich das beobachten kann, in der deutschen intellektuellen Landschaft nicht besonders präsent. Eine Ausnahme bildet vielleicht die Rezeption des politischen Denkens Antonio Gramscis.
Dabei gibt es hochinteressante denkerische Konstruktionen, zum Beispiel von Massimo Cacciari oder eben auch Luigi Pareyson, der im übrigen Ecos Lehrer war.
Vielleicht kann man in der italienischen Philosophie nach 1945 von zwei Lagern sprechen, einem katholischen und einem atheistischen, mit Tendenz zur politischen Linken. Allerdings ist auch das eine gewagte Aufteilung, da nicht wenige an den Rändern entlang dachten. Ich glaube, dass originelles Denken sich ohnehin nicht politisch einhegen lässt. Im Kapitel ‚Tradition und Revolution‘ des vorliegenden Buches beispielsweise heißt es:
„Die Tradition ist das Gegenteil der Revolution, nicht weil sie der Revolution die Bewahrung entgegengesetzt, sondern gerade weil die von ihr geforderte Regeneration völlig anderer Natur ist, als die von der Revolution vorangetriebene, denn sie ist von einem ursprünglichen und ontologischen Charakter, letztere von einem sekundären und zeitlichen.“
Was hier konservativ anklingt, verwandelt sich vor dem Hintergrund der politischen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts, da von Faschisten bis Kommunisten eine Revolution eingefordert wurde. Ähnlich wie im Denken Pasolinis entspringt dem Bewahrenden die Emanzipation, während sich im Fort-schritt auch das Vernichtende findet.
Pareyson lebte von 1918 bis 1991, und sein Denken steht in einer Tradition der Ontologie, die sich unter anderem in einer Auseinandersetzung mit dem Denken Heideggers zeigt. Auch stand er mit Gadamer in produktiven Austausch.
In der äußerst instruktiven Einführung von Claudio Ciancio und Ugo Perone zu diesem Buch heißt es:
„Das philosophische Denken kann daher nicht den Anspruch erheben, eine spiegelnde und objektive Darstellung der Wirklichkeit zu sein, sondern eine Interpretation, die die Wirklichkeit gestaltet, indem sie von der besonderen und persönlichen Sichtweise des Interpreten ausgeht.“
Dieser Ausgangspunkt führt bei Pareyson zwar zu einer Pluralität der Interpretationen aber nicht zu einer Beliebigkeit. Nach der Lektüre von Rortys Vorlesungen stellt die des Buches von Pareyson für mich eine Form der Erholung dar, nicht weil es sich um eine einfachere Lektüre handeln würde, sondern weil Pareysons Denken eine nachhaltigere Komplexität vermittelt, die mein eigenes Denken intensiver herausfordert und zuweilen durcheinanderwirbelt, aber auch einen Begriff rettet, den aufzugeben mir nicht angemessen zu sein scheint. Nämlich jenen der Wahrheit.
Man kann bei Rorty durchaus von einer Art Wahrheitsverzicht sprechen, während Pareyson die Wahrheit als Grund eines pluralistischen Ausdrucks zu retten sich anschickt. Natürlich argumentiert er dabei nicht unmittelbar gegen Rorty, ist sein Buch doch wesentlich früher entstanden, aber eine Argumentation gegen den Pragmatismus im Allgemeinen leuchtet hier und da im Text auf.
Dabei ist der historisch denkerische Ausgangspunkt ähnlich, auch wenn er zu gegensätzlichen Interpretationen führt. Wenn Rorty beispielsweise die Religion in den Bereich des Privaten zu verbannen sucht, in dem sie sich gewissermaßen einzukapseln habe, implantiert Pareyson den Gottesbegriff als den des Seins, auch wenn das Wort Gott zumindest in diesem Text gar nicht vorkommt.
Übersetzt und im Meiner Verlag herausgegeben wurde das Buch von Gianluca De Candia.